(Letzte) Folge 8 der Reihe „Die sieben Bhumikas“ – Eine poetisch-philosophische Serie über Täuschung, Erkenntnis und das leise Erwachen im Lärm unserer Zeit. Die Sieben Bhumikas sind die sieben Stufen der spirituellen Evolution, wie sie im Yoga Vasishtha beschrieben werden und im Kommentar von Brahmananda zur Hatha Yoga Pradipika beschrieben werden. Bhumika heißt Stufen.
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Eine poetisch-philosophische Betrachtung
Es gibt einen Weg, der nicht draußen beginnt – sondern drinnen. Nicht mit Schritten, sondern mit einem Innehalten. Nicht mit dem Streben nach mehr, sondern mit der leisen Ahnung, dass da etwas ist, das nicht gesucht werden kann. Nur gefunden – in der Stille.
Die sieben Bhumikas, beschrieben in der alten indischen Weisheitstradition, sind keine Stufen, die erklommen werden müssen. Sie sind innere Zustände, Wandlungen im Bewusstsein, Spiegelungen eines Weges, der das Ich durchlichtet, bis es durchlässig wird – für das, was jenseits von Bild und Begriff liegt.
1. Śubhecchā – Die Sehnsucht nach Wahrheit
Alles beginnt mit einer Regung, die nicht laut ist, aber echt. Einer Sehnsucht, die keine Worte braucht. Śubhecchā ist das stille Erkennen, dass etwas fehlt – nicht äußerlich, sondern innerlich. Die Welt, wie sie war, trägt nicht mehr. Etwas in uns ruft nach Tiefe, nach Wahrheit, nach Wirklichkeit jenseits der gewohnten Geschichten.
2. Vicāraṇa – Die stille Untersuchung
Die Sehnsucht wird zur Bewegung. Vicāraṇa ist kein Suchen im Außen, sondern ein Lauschen nach innen. Der Mensch beginnt, zu fragen – nicht nach Antworten, sondern nach Echtheit. Er prüft nicht mit dem Verstand allein, sondern mit dem Herzen. Erkenntnis wird nicht zur Information, sondern zur leisen Auflösung dessen, was nicht mehr trägt.
3. Tanumānasa – Der Geist wird durchscheinend
Das Denken wird feiner. Die Anhaftung an Begriffe lässt nach. Tanumānasa ist der Moment, in dem der Geist nicht mehr dominiert, sondern dient. Der Mensch nimmt wahr – nicht um zu bewerten, sondern um zu sein. Zwischen den Gedanken öffnet sich ein Raum. Und in diesem Raum: Stille. Offenheit. Gegenwart.
4. Sattvāpatti – Das Licht der Klarheit
Klarheit entsteht nicht durch Wissen. Sondern durch Loslassen. Die Wahrnehmung wird rein – nicht perfekt, sondern ungetrübt. Sattvāpatti ist kein Zustand, den man erreicht, sondern ein Zustand, der geschieht, wenn man aufhört zu greifen. Täuschung wird nicht bekämpft, sondern gesehen – und in diesem Sehen verliert sie ihre Kraft.
5. Asamsakti – Freiheit in der Verbundenheit
Was bleibt, wenn nichts mehr festgehalten wird? Asamsakti ist der Zustand, in dem Bindung nicht mehr bindet. Der Mensch ist in der Welt – aber nicht mehr von ihr gefangen. Er liebt, ohne zu klammern. Handelt, ohne zu haften. Er erkennt: Wirkliche Freiheit entsteht nicht durch Abgrenzung, sondern durch das Loslassen des Festhaltens.
6. Padārtha Bhāvanā – Die Dinge durchschauen
Hier wird das Sehen ganz still. Padārtha Bhāvanā bedeutet: die Wirklichkeit erkennen, wie sie ist. Nicht als Konzept, nicht als Symbol – sondern als das, was jenseits aller Bilder liegt. Der Mensch durchschaut die Erscheinungen, ohne sich in ihnen zu verlieren. Er erkennt den Unterschied zwischen Bewegung und Wesen, Form und Essenz, Wort und Wahrheit.
7. Turiya – Das unaussprechliche Vierte
Am Ende steht kein Ziel. Kein Gipfel. Kein Verstehen. Turiya ist nicht mehr beschreibbar. Es ist das, was bleibt, wenn alle Zustände vergehen. Ein reines Gewahrsein, jenseits von Denken, Wollen, Haben. Nicht Trance, nicht Abgehobenheit – sondern das schlichteste, tiefste, wahrhaftigste Sein. Nicht Ich-Bewusstsein – sondern Bewusstsein selbst.
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Der Weg durch die Bhumikas ist kein Fortschritt im äußeren Sinn.
Es ist ein Aufgeben der Illusion, dass etwas hinzugefügt werden müsste. Stattdessen fällt etwas ab – Schicht um Schicht. Was bleibt, ist nicht Leere. Sondern Präsenz. Stille. Wahrheit – die nicht lehrt, sondern ist.
Dieser Weg ist kein Muss. Kein Anspruch. Keine Pflicht. Er ist ein Echo. Eine Erinnerung. An das, was wir schon immer waren – bevor wir uns vergaßen.
Und vielleicht ist es das, was Erwachen meint:
Nicht mehr wissen zu müssen. Sondern still zu sein in dem, was längst da ist.
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Hinführungstext zur Abschlussfolge (Folge 8) der poetisch-philosophischen Serie „Licht im Schleier – Wahrheiten am Rand der Welt“
Es gibt innere Wege, die sich nicht durch Fortschritt erschließen, sondern durch Hingabe. Nicht durch Wollen, sondern durch Lassen. Nicht durch neue Erkenntnis – sondern durch das stille Entkleiden der alten Gewissheiten.
Die sieben Bhumikas sind keine Methode, keine Stufenleiter, kein Plan zur Erleuchtung. Sie sind Spiegel einer inneren Bewegung, die tiefer reicht als Denken, weiter wirkt als Worte – und leiser heilt als jedes Konzept.
Vom ersten tastenden Sehnen (Śubhecchā) bis zum jenseitigen Gewahrsein (Turiya) erzählen sie von einem Weg, der nicht gemacht wird, sondern geschieht. Ein Weg, der nicht wegführt – sondern nach Hause.
In dieser Folge geht es um die Zusammenhänge. Um das, was bleibt, wenn man zurückblickt – nicht von oben, sondern von innen. Was, wenn der Schleier nie das Problem war? Was, wenn Wahrheit nie fern war – nur still?
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„Die sieben Bhumikas“
Eine Serie über Täuschung, Erkenntnis und das leise Erwachen im Lärm unserer Zeit
Die Reihe besteht aus thematischen Impulsen, inspiriert von Patanjali, den sieben Bhumikas, der Bhagavad Gita und dem tiefen Menschsein in einer Welt voller Masken, Ablenkung und Sehnsucht. Jeder Beitrag ist ein stilles Tor – ein Spiegel, eine Frage, eine Erinnerung.
Avidya, im Kontext von Yoga und Buddhismus, bedeutet so viel wie Nichtwissen oder Unwissenheit, aber nicht im Sinne von fehlendem Wissen, sondern vielmehr als eine Verblendung oder falsche Sichtweise auf die Realität. Es ist die Grundlage für Leiden und wird als die „Mutter“ aller anderen Kleshas (Affekte oder Hindernisse) betrachtet.
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Hinweis zur Reihe: Diese Beitragsserie ist Teil des entstehenden Buches
„DIE RUHE HINTER DEN GEDANKEN – Patañjalis Yogasūtra – vier Stufen innerer Sammlung“
geschrieben von Kati Voß | Band I der Reihe WEISHEITSWISSEN / Kategorie: Spirituelle Philosophie & Weisheitsliteratur für den inneren Weg
Dieses Buch führt in die Tiefe des Yogasūtra – nicht als Technik, sondern als inneren Weg. In vier Abschnitten entfaltet sich ein stilles Verständnis von Sammlung, Klarheit und Selbstführung. Die jahrtausendealte Schrift wird hier neu lesbar: poetisch, erfahrungsnah, still. Patañjalis Pfad zur inneren Sammlung wird zur Einladung, dem Lärm des Denkens eine andere Kraft entgegenzusetzen – die Stille dahinter.
Erscheinung: November 2025 – Die Texte der Reihe „Die sieben Bhumikas“ sind begleitende Impulse dieses Werks.