Folge 2 der Reihe „Licht im Schleier – Wahrheiten am Rand der Welt“ – Eine poetisch-philosophische Serie über Täuschung, Erkenntnis und das leise Erwachen im Lärm unserer Zeit
Die Wahrheit hat keine Eile. Sie drängt sich nicht auf. Sie schreit nicht, sie diskutiert nicht, sie erklärt sich nicht. Sie ist – gegenwärtig, unscheinbar, unbeeindruckt vom Spektakel des Denkens. Sie zeigt sich nicht dem, der sie greifen will, sondern dem, der bereit ist, still zu werden. Nicht äußerlich, sondern innerlich – dort, wo das Fragen weich wird, wo das Hören nicht mehr nach Antwort sucht, sondern nach Berührung.
Vicharana – die zweite Bhumika von Patanjali – spricht von Unterscheidung. Doch wie unterscheidet man, wenn alles gleich laut ruft? Wenn Worte ihren Ursprung verlieren, weil sie nicht mehr aus der Stille geboren sind, sondern aus der Hast? Wenn jede Meinung Wahrheit nennt, jede Stimme sich selbst recht gibt, und sogar das Schweigen zur Position geworden ist? In einer Welt, in der Information sich überschlägt und Bedeutung flieht, wird es schwer, noch zu sehen, wo Wahrnehmung endet und Projektion beginnt.
Die Wahrheit aber bleibt still. Nicht weil sie schwach wäre, sondern weil sie frei ist. Sie braucht kein Recht. Sie braucht kein Gegenüber. Sie ist kein Gedanke – sie ist Gegenwart. Eine Gegenwart, die atmet, die leise ist, die uns nicht sagt, was wir denken sollen, sondern uns erinnert, was wir vergessen haben.
Unterscheidung heißt nicht: wissen, was falsch ist. Es heißt: nicht mehr überlagern, nicht mehr verschieben, nicht mehr verteidigen. Es heißt: durchdringen, nicht urteilen. Erkennen, nicht benennen. Die Wahrheit offenbart sich nicht durch Debatte, sondern durch Aufrichtigkeit. Durch das stille Sitzen mit dem, was ist.
Vielleicht beginnt Wahrheit nicht mit einem Satz, sondern mit einer Pause. Nicht mit Gewissheit, sondern mit Demut. Vielleicht ist sie nicht das, was wir sehen – sondern das, was durch uns sieht.
So ist Wahrheit kein Ziel, sondern eine Erinnerung. Keine Leistung, sondern eine Rückkehr. Kein Besitz, sondern ein Durchgang. Und wer sie wirklich sucht, wird früher oder später erkennen: sie tut nicht weh. Sie macht still.
„Licht im Schleier – Wahrheiten am Rand der Welt“
Eine Serie über Täuschung, Erkenntnis und das leise Erwachen im Lärm unserer Zeit
Die Reihe besteht aus thematischen Impulsen, inspiriert von Patanjali, den sieben Bhumikas, der Bhagavad Gita und dem tiefen Menschsein in einer Welt voller Masken, Ablenkung und Sehnsucht. Jeder Beitrag ist ein stilles Tor – ein Spiegel, eine Frage, eine Erinnerung.
Avidya, im Kontext von Yoga und Buddhismus, bedeutet so viel wie Nichtwissen oder Unwissenheit, aber nicht im Sinne von fehlendem Wissen, sondern vielmehr als eine Verblendung oder falsche Sichtweise auf die Realität. Es ist die Grundlage für Leiden und wird als die „Mutter“ aller anderen Kleshas (Affekte oder Hindernisse) betrachtet.