2. Wenn – Dann – Warum nicht Jetzt? / Reihe: „Jenseits des Lehrweges – Über das Vertrauen, das nicht sucht“

Yoga Vāsiṣṭha – Das Ende der Unterweisung – Eine poetisch-philosophische Serie über Lehre, Erinnerung und das Vertrauen jenseits des Suchens.

Diese Reihe wurzelt im Yoga Vāsiṣṭha, einer der tiefgründigsten Schriften des indischen Denkens über Geist, Wirklichkeit und Befreiung. Sie stellt die Frage, warum selbst die Lehre vom Erwachen noch vom Trennen erzählt – und was geschieht, wenn das Lernen selbst verstummt. Ein stiller Weg durch Paradoxien, Lehrerworte und Schweigen – eine Einladung, das zu erkennen, was niemals gelehrt werden kann.

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Über das pädagogische Missverständnis der Befreiung und das ewige Verschieben ins Morgen.

Es gibt eine stillschweigende Annahme in fast allen Lehren dieser Welt: dass der Mensch „noch nicht“ sei. Dass ihm etwas fehle, das er erst durch Disziplin, Studium, Läuterung oder Erkenntnis erlangen müsse. Doch genau darin liegt das größte Missverständnis der Befreiung.

Das „Wenn – Dann“ ist die Sprache des Mangels. Wenn du meditierst, wirst du still. Wenn du verzichtest, wirst du rein. Wenn du erkennst, wirst du frei. Diese Sätze nähren das, was sie zu überwinden vorgeben – die Vorstellung, getrennt zu sein vom Ursprung.

Das Leben selbst kennt kein „Wenn“. Es geschieht. Atmet, vergeht, erneuert sich – ohne Bedingung. Nur der Geist, der sich als Beobachter und Richter versteht, konstruiert Zeit und Richtung. Er braucht Ziel und Fortschritt, um sich selbst zu spüren. Doch Befreiung hat weder Richtung noch Fortschritt. Sie ist der Moment, in dem das Werden aufhört und das Sein wieder zu leuchten beginnt.

Das Yoga Vāsiṣṭha lehrt Moksha als das Ende der Wiedergeburt, doch in Wahrheit ist es das Ende des Wartens. Der Augenblick, in dem du siehst, dass auch dein Streben nach Befreiung nur eine weitere Form des Samsara ist – Bewegung innerhalb der Illusion.

Die Pädagogik des Geistes liebt das Später. Sie gibt Halt, indem sie Hoffnung erzeugt. Doch Hoffnung ist nur Angst in feinerer Form – die Weigerung, das Jetzt auszuhalten, das nichts verspricht.

Erst wenn der Mensch das Jetzt nicht mehr als Zwischenraum, sondern als Ganzes erfährt, fällt das „Wenn – Dann“ in sich zusammen. Dann ist nichts mehr zu erreichen, weil alles schon geschieht. Dann ist jede Handlung, selbst das Atmen, Ausdruck des Ewigen.

Befreiung war nie das Ziel. Sie ist der Stillstand des Suchens, nicht durch Willen, sondern durch Einsicht. Ein Aufhören ohne Ende. Und vielleicht beginnt das wahre Lernen genau dort, wo niemand mehr lehrt, was kommen soll – weil alles schon hier ist.

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Diese Blogreihe „Yoga Vāsiṣṭha – Das Ende der Unterweisung“ findet ihre inhaltliche Heimat in Band XI – DAS HERZ DER LEERE (Herz-Sutra & Prajñāpāramitā) aus der Buchreihe WEISHEITSWISSEN / Kategorie: Spirituelle Philosophie & Weisheitsliteratur für den inneren Weg (erscheint Mai 2026).

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