5. Patañjali missverstanden / Reihe: „Jenseits des Lehrweges – Über das Vertrauen, das nicht sucht“

Yoga Vāsiṣṭha – Das Ende der Unterweisung – Eine poetisch-philosophische Serie über Lehre, Erinnerung und das Vertrauen jenseits des Suchens.

Diese Reihe wurzelt im Yoga Vāsiṣṭha, einer der tiefgründigsten Schriften des indischen Denkens über Geist, Wirklichkeit und Befreiung. Sie stellt die Frage, warum selbst die Lehre vom Erwachen noch vom Trennen erzählt – und was geschieht, wenn das Lernen selbst verstummt. Ein stiller Weg durch Paradoxien, Lehrerworte und Schweigen – eine Einladung, das zu erkennen, was niemals gelehrt werden kann.

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„Citta vṛtti nirodhaḥ“ – nicht Stillstand des Geistes, sondern Durchsichtigkeit des Seins.

Über Jahrhunderte wurde der Satz des Weisen Patañjali als Zielvorgabe verstanden: „Yogaḥ citta-vṛtti-nirodhaḥ“ – Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Gedankenwellen im Geist. Doch was bedeutet „zur Ruhe bringen“ wirklich? Wurde es je so gemeint, wie es übersetzt wird – als Unterdrückung, als Kontrolle, als Sieg des Willens über das Denken? Oder ist der Satz vielmehr das Gegenteil von allem, was der Mensch daraus gemacht hat?

Der Geist, so wie wir ihn kennen, versucht ständig, sich selbst zu beruhigen. Er kämpft gegen seine eigenen Wellen und hält sich doch durch diesen Kampf in Bewegung. Er will still sein, um erleuchtet zu werden, und wird dadurch noch lauter. In dieser Logik wird Stille zu einem Ziel, und jedes Ziel erzeugt Spannung. Der Gedanke, sich vom Denken zu befreien, ist immer noch ein Gedanke.

Was, wenn nirodhaḥ nicht das Ende der Bewegung, sondern das Durchsichtigwerden der Bewegung meint? Wenn Stille nicht das Gegenteil des Geräusches, sondern seine Durchdringung ist? Dann wäre Yoga kein Akt des Willens, sondern des Loslassens. Keine Übung, sondern das Aufhören zu üben.

Patañjali spricht von der Rückbindung des Bewusstseins an sein ursprüngliches Sein. Dieses Sein ist nicht leer, sondern klar – frei von Verwicklung, nicht von Leben. Es ist der Moment, in dem Denken durchsichtig wird, weil es nicht mehr an sich glaubt. Gedanken dürfen kommen und gehen, wie Wellen über einem Meer, das längst unbewegt bleibt.

Das Missverständnis entsteht, wenn der Mensch glaubt, er müsse das Meer glätten. Doch das Meer war nie unruhig – nur die Oberfläche war in Bewegung. Der Versuch, diese Bewegung zu stoppen, hält sie fest.

In Wahrheit sagt Patañjali nicht: „Halte an.“ Er sagt: „Erkenne, dass du nie fort warst.“
 
Yoga ist nicht Kontrolle, sondern Rückerinnerung, der Sieg über den Geist erfordert seine Transparenz.

Wenn Stille nicht gemacht wird, sondern geschieht, indem der Mensch aufhört, sie zu suchen, offenbart sich das, was er immer war – Bewusstsein ohne Grenze.


Dann ist citta vṛtti nirodhaḥ kein Zustand, sondern eine Offenbarung.


Der Fokus verschiebt sich vom Ende des Denkens hin zum Erkennen, dass Denken selbst Bewusstsein ist – flüchtig, formlos, unschuldig.

So verliert Yoga seinen asketischen Charakter und wird zum einfachsten, stillsten Akt des Lebens: zum Durchscheinen dessen, was nie verdunkelt war.

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Diese Blogreihe „Yoga Vāsiṣṭha – Das Ende der Unterweisung“ findet ihre inhaltliche Heimat in Band XI – DAS HERZ DER LEERE (Herz-Sutra & Prajñāpāramitā) aus der Buchreihe WEISHEITSWISSEN / Kategorie: Spirituelle Philosophie & Weisheitsliteratur für den inneren Weg (erscheint Mai 2026).

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